Der Deutsche Gewerkschaftsbund beobachtet die Entstehung eines immer größeren „digitalen Proletariats“, warnt vor „moderner Sklaverei“ und befürchtet für viele Beschäftigte „die Auflösung von Ort, Raum und Zeit“. Nach seiner Schätzung sind insgesamt weit mehr als 2 Millionen Menschen inzwischen in der sogenannten Plattform-Ökonomie.

(Rainer Hoffmann, Chef des Deutschen Gewerkschaftsbundes, n-tv vom 28.4.2018)

Welche Antwort hat die Kairologie auf dieses Problem der zunehmenden Digitalisierung der Wirtschaft?

Aus kairologischer Sicht genügt es nicht, sich auf das Festhalten alter Vorstellungen wie den Acht-Stunden-Arbeitstag oder die Norm der elfstündigen Ruhezeiten zu fixieren. Auch die Rede von einer Weiterentwicklung des digitalen Kapitalismus scheint nur darüber hinweg zu täuschen, dass man keine Lösung hat

Demgegenüber schlägt die Kairologie eine Lösung vor, die sowohl dieser faktischen Auflösung von Ort, Raum und Zeit wie auch den existenziellen Bedürfnissen der Menschen entspricht.

Die Auflösung bedeutet nämlich, dass eine wachsende Unsicherheit ins Leben der Menschen kommt. Sie können sich auf immer weniger verlassen. Menschen, denen beigebracht wurde, dass bestimmte Normen und Qualifikationen gelten würden, kommen dadurch in größte innere Schwierigkeiten. Ihnen hilft nur, ein verändertes Menschenbild zu entwickeln, das der äußeren Dynamik nicht mehr bloß standhalten kann, sondern ihr überlegen ist.

Aus kairologischer Sicht wäre zu lernen, dass jeder von uns selbst ein dynamisches Wesen ist. Nicht in den festen Bewusstheitsinhalten unseres Gehirns liegt unsere Sicherheit, sondern in dieser Dynamik. Sie zeigt sich in einem Phänomen, das man nur selten unmittelbar wahrnimmt: Alles verändert ständig seine Bedeutung für uns Menschen. So hat zum Beispiel das Studieren, eine Partnerschaft oder der Berufseinstieg mit 23 Jahren eine andere Bedeutung als etwa mit 30 Jahren. Motiviert mit 23 Jahren vor allem das Entdecken, die Erotik zwischen zwei Personen oder das Ausprobieren von Neuem, so liegt mit 30 Jahren der Schwerpunkt weit mehr auf dem zielgerichteten Lernen, dem Willen zur gemeinsamen Lebensgestaltung oder der Entscheidung für einen bestimmten Karriereweg.

Die Bedeutung dessen, was wir denken, fühlen oder tun, verändert sich entsprechend einer bestimmten Dynamik und der ihr zugrunde liegenden Kraft. Diese schöpferische Kraft ist unser eigentliches Maß. Die Kairologie spricht davon, sich an „seinem Kairos“ auszurichten.

Die Politik hat den Auftrag, diesem Maß seinen angemessenen Raum in der Gesellschaft zu verschaffen. Genauso sind die Unternehmen darauf angewiesen, diesem Maß möglichst gerecht zu werden. Jemanden zur falschen Zeit einzustellen heißt also, nicht die Zeit der optimalen Kräftekonstellation zu erkennen und zu nutzen. Viele Mitarbeiterjahresgespräche sind in diesem Sinne völlig unproduktiv. Sie bleiben auf einer äußerlichen Ebene statt zu klären, welche tieferen Transformationen sich beim einzelnen gerade abspielen und was das für die nächste Zukunft bedeutet.

Wo dagegen um diese ständig sich ändernde, aber nicht willkürlich wirkende Dynamik gewusst und ihr entsprechend gehandelt wird, verwandelt sich eine scheinbar negative Situation in eine positive. Den von außen kommenden Algorithmen stehen noch stärkere innere Algorithmen gegenüber. Sie garantieren eine schöpferische Freiheit, die durch die Macht der Digitalisierung nicht zerstört werden kann.

29.April 2018

Dr. Karl Hofmann