Sehr oft wird die Frage gestellt, was denn eigentlich das Besondere am Kairos und an der Kairologie sei. Die einfache Antwort ist: Die Beziehung auf die Dynamik des Menschen.
Doch lassen Sie uns das etwas präziser ausführen, damit ganz klar ist, was die Einzigartigkeit der Kairologie als Lehre vom Kairos ausmacht.
Gern wird die Kairologie als ‚kopernikanische Wende der Humanwissenschaften‚ bezeichnet. Wieso das?
Vor Kopernikus war das unmittelbare Bewusstsein, das der Mensch von Himmel und Erde hatte, das Maß seiner Orientierung. Die Welt des Kosmos war so, wie sie sich der Mensch vorstellen konnte. Die Erde steht still, die Sonne geht auf und unter. Die Erde also ist der Mittelpunkt des Kosmos. Kopernikus entdeckte, dass die Erde im Laufe eines Jahres einmal um die Sonne kreist und die Erde sich im Laufe eines Tages einmal um sich selber dreht. Diese Entdeckung brachte nicht nur ein neues Weltbild, sondern hatte auch Auswirkungen auf Religion und Philosophie. Einer sich verringernden Deutungshoheit der Kirche stand eine zunehmende Bedeutung der Naturwissenschaften gegenüber.
Hinsichtlich des Menschen und seiner Zeiterfahrung sind die meisten immer noch vor Kopernikus. Was damals die Erde war, ist heute unser unmittelbares subjektives oder geschichtliches Bewusstsein. Wir beurteilen alles aus der eigenen Perspektive. Was wir uns als objektiv oder wertvoll vorstellen können, das ist für uns der Maßstab, der gilt. Genauso ist Zeit auf einer chronologischen Achse zu verorten und damit unabhängig vom Menschen zu definieren.
Die Kairologie greift Kopernikus auf neue Weise auf. Die Sonne unseres Lebens ist jene Kraft in uns, die uns eins sein lässt mit unserer Wirklichkeit. Jeden Morgen muss diese Beziehungskraft neu aktiviert werden. Sie bestimmt, welche Bedeutung wann etwas für uns hat. Nicht von den Inhalten, sondern von ihrer Bedeutung für uns hängt ab, wie sehr uns etwas sicher zu sein scheint, uns erfüllt oder beglückt. Diese Bedeutungen aber verändern sich, weil sich die Beziehung zwischen der Erde unserer Vorstellungen und der Dynamik unserer „Sonne“ ständig verändert. Im Kairos erfahren wir die aktuelle Konstellation.
Wie diese menschliche Dynamik genau funktioniert, ist Thema der Kairologie.
Die herkömmlichen Humanwissenschaften arbeiten nur mit den Produkten dieser Dynamik. Sie sind messbare Gegebenheiten und sachlich wie chronologisch einzuordnen.
Der Mensch ist nie ‚fertig‘. Er ist immer auf dem Weg.
Wenn der Mensch sich immer um die Sonne seiner Dynamik dreht, ist er nie ‚fertig‘.
Er ist immer auf dem Weg.
Der Mensch ist sich selbst somit immer eine Aufgabe. Seine Aufgabe ist, tagtäglich neu mit seiner Sonne in Beziehung zu treten. Er steht aber auch immer in der Gefahr, von der Dynamik seines Menschseins so sehr abzuweichen, dass er den Eindruck gewinnt: das ist doch kein Leben mehr. Dagegen wird zum Beispiel ein Hase nie versäumen, ein Hase zu sein.
Die bisherigen Humanwissenschaften beschäftigen sich primär mit dem Raum des menschlichen Bewusstseins. Sie liefern hervorragende Landkarten vom menschlichen Leben (Kinder-Landkarte, Jugendlichen-Landkarte, Erwachsenen-Landkarte, etc.).
Das humane Navigationssystem
Die Kairologie geht davon aus, dass jeder Mensch Anteil hat an einem humanen Navigationssystem. Es ist ein energetisch organisiertes Beziehungssystem, das im Unterschied zu Landkarten natürlich nur modellhaft abzubilden ist.
Kairos ist in diesem Modell nicht ein zufälliger bedeutsamer Augenblick, sondern der ständig aktive Navigator, der den Menschen immer wieder auf dieses sein Navigationssystem ausrichtet. Kairos ist somit die Quelle dessen, was wir „Vernunft“ nennen.
Der Vorteil des Navigationssystems ist, – ähnlich wie im Auto auch –, dass es sowohl auf das Ganze als auch auf die einmalige Situation jedes einzelnen bezogen ist. Jeder steuert sein Lebensfahrzeug selbst. Wer dabei aber auf seinen Navigator achtet, hat den Vorteil, dass er sicher, entspannt und mit geringstem Energieaufwand seine Ziele erreichen kann. Die Kairologie wiederum kann ihm helfen, seinen Navigator richtig einzustellen, seine Botschaften zu erkennen und zu deuten.
Aus dem Bild lässt sich ein Zweifaches ablesen.
Zum einen: Wie sich von außen auf den ersten Blick selten sofort erkennen lässt, ob jemand durch eine Stadt mit oder ohne Navigator fährt, so lässt sich oft auch bei Menschen erst beim näheren Hinsehen erschließen, inwiefern jemand seinem Kairos oder nur äußeren Vorgaben folgt.
Zum zweiten zeigt der Vergleich, wie wenig Humanwissenschaften und Kairologie einander widersprechen. Niemand, der für das Navi redet, ist gegen Landkarten. Denn auch jedes Navi baut auf den Landkarten auf. Sein Umgang mit ihnen ist bloß anders als bisher.
In einer Zeit, in der die Orientierungslosigkeit bei vielen stark zunimmt, die wissenschaftlichen Landkarten angesichts der Schnelligkeit der Veränderungen rasch veralten, fällt es immer schwerer, seinen eigenen Weg zu finden und seinen Kairos intuitiv richtig zu deuten. Sowohl im eigenen Leben als auch im beruflichen Umfeld wird es daher immer wichtiger, mit den Instrumenten und Hilfsmitteln der Kairologie zu arbeiten.
Nichtsdestotrotz ist davon auszugehen, dass das alte Menschenbild noch längere Zeit die Öffentlichkeit beherrscht. Aber auch die Verurteilung eines Galileo Galilei konnte einst nicht verhindern, dass das Neue sich durchsetzte. (kh) |